Der wandelnde Wirbel
Das vergehende Glühen der Praiosscheibe strich das kalte Blau und dröge Grau des Nebelschleiers mit einem letzten Hauch von Wärme und Leben. Isora stocherte etwas ungelenk mit der Stake im Wasser, um die langsame Fahrt der Barke nicht enden zu lassen. Wenige Minuten waren erst vergangen; das Boot hatte wohl kaum mehr als zwei- oder dreihundert Schritt Fahrt hinter sich, seitdem sie mit ihren beiden Mitfahrenden vom Ufer abgestoßen hatten. Natürlich nicht am belebten Hafen, sondern etwas südlicher, hinter dem Tempel der jungen Göttin. Fahrten in die Unterstadt von Havena waren nun mal verboten.
„Ich möchte euren Mut nicht anzweifeln meine Herren, erlaubt mir Euch dennoch zu versichern, dass keine Gefahr besteht, solange ihr im Boote bleibt!“ Isora hatte bis zuletzt gehofft, ihr Gefühl fuße auf einer haltlosen Sorge. Es könne soviel geschehen, und der Ausgang war bestimmt ungewiss, redete sie sich beständig ein. Allein, glauben konnte sie es nicht. Beide werden hier ihr Leben lassen. Sie hatte es in der Stimme gehört. Auch wenn sie nicht danach trachtete, sie würde es tun. Sie
musste es tun!
„Mein werter Herr, Ihr und Euer Gefährte seid mir willkommene Gäste“ Isora wusste nicht, ob der Mann oder sein Begleiter von Adel, Reichtum oder auch nur gutem Leumund waren. Die Worte schienen dem älteren der Burschen – beide noch jünger als zwei Dutzend Götterläufe – gut zu gefallen. Kurz fiel sein Blick und ein Lächeln zu seinem Begleiter. Dessen Blick hing unverändert im Nebel.
Die Geräusche der Stadt waren verklungen und die Beschaulichkeit der Dämmerung wich dumpfen Geräuschen in weißgrauem Nebel und schwarzblauen Tiefen. „Ich bitte die Herrschaften das Nass nach Möglichkeit nicht zu berühren und keinesfalls zu trinken. Es heißt, das Wasser rufe die Dämonenpest hervor, oder aber nach langem Siechtum schwemme euer Leib auf und eine weitere Wasserleiche wandere für alle Zeit umher. In jedem Falle kann nichts Gutes daraus folgen.“ Die Berichte, die zuhauf in den Schänken und unter den Matrosen erzählt wurden, konnten kaum angezweifelt werden. Auch Bürger, die ihrem Erwerb auf festem Grund nachgingen, kannten die Erzählungen über die Unterstadt.
Jeder Einwohner Havenas kannte diese Erzählungen!
„Mehr als dreihundert Götterläufe sind vergangen, als der Herr Efferd die große Flut schickte und sein Zorn die Frevler und Sünder der Stadt strafte. Zu jener Zeit war die Stadt größer als sie es heuer ist. Sechzigtausend und noch mehr Seelen. Vom Stein blieb nur der Tempel des Launenhaftens, der noch heute steht, von den Leibern kaum Fünftausend. Gemäuer, Mensch und Tier wurden vom Nass begraben und liegen nun direkt unter euren Füßen. Innerhalb weniger Augenblicke aus Ihrem Leben gerissen, von Gottesmacht fortgespült. Väter, Töchter, Mütter, Söhne. Reich und arm, alt und jung. Ohne Unterscheidung, ohne Warnung, ohne Begreifen, endeten Träume und Ziele, endeten Glück und Frohsinn. Wie groß muss die Angst gewesen sein? Wie groß der Schmerz, die Verzweiflung, das Warum? Wie groß muss der Hass gewesen sein, der Zorn, die Wut? Man sagt, diese Regungen sind es, die Geister antreibt, die sie sehnsüchtig zu den Lebenden blicken lässt. Sie neiden ihnen ihren Frohmut, und begegnen ihnen daher in Rachgier. Vergebens, denn auch dieser Trank kann den ihren Durst nicht stillen. Allein die Götter sind es, die dies gewähren können.
Keine der Seelen kann diesen Ort verlassen, bis in der Stadt nicht ein Frevler mehr wandle. So habe es der Herr Efferd befohlen. Die Geister kann man noch heute vernehmen, zur rechten Zeit, da sie den Blick des Herrn Praios nicht mehr fürchten, klagen sie ihr Leid über das Wasser.“ Isora wusste von den zahlreichen Sichtungen von Irrlichtern, unerklärlichen Geräuschen und blass-fahlen Gestalten zwischen den versunkenen Ruinen. Wer könne sagen, dass dies nicht die Geister der fünfzigtausend Seelen sind, die hier vor mehr als zehn Generationen Opfer der Zerstörung wurden?! Zumindest war es etwas, das Ortsfremden gerne erzählt wurde.
Wo war nur dieser Vogel? Isora sah den schwarzen Schatten - nein, vielmehr das zum Bauch weiße Federkleid - durch den fortwährenden Dunst in kurzer Entfernung. Das Madamal zeigte sich in dieser Nacht nur zur Hälfte und erlaubte wenig Sicht und gar weniger Farben. Da Praios aber nun blinzelte und seinen Blick für einige Zeit von der Welt nahm, war der silberne Schein das einzige Licht. Jede Fackel wäre ein Leuchtfeuer, jede Blendlaterne ein Risiko. Für einen Augenblick blieb die Nebelkrähe auf dem brüchigen Steinbogen sitzen, der gut zwei Mann hoch aus dem Wasser ragte, verkündete dann mit einem Krächzen sein Dasein und flog nach Nordwest.
Kann sie mich sehen? Weiß sie weshalb ich hier bin? Mit dem langen Holz in ihren Händen stieß Isora ein paar Mal zu, um etwas Schwung zu gewinnen. Vorsichtig änderte sie den Kurs nach Nordwest. Ihre zwei Fahrgäste merkten von alledem nichts, beide weiterhin mit Augen und Gedanken in der Düsternis.
Zwölf Tage war es nun her, nein, dreizehn gar, seit er zurückkehrte. Nach langen Wochen auf See hatte Isora das Wiedersehen herbeigesehnt. In Gedanken hatte sie es sich ausgemalt, dutzendfach, hundertfach. In stillen Momenten vor dem Schlafe, an langen, tristen Tagen, selbst im Traume, sah sie ihn vom Schiffe kommen. Mit brauner Haut von eintausend Sonnenstunden ging er die Planke hinab zu ihr. Er öffnete seine Arme in freudiger Erwartung, sie ebenfalls, in glücklicher Ungeduld. Nur wenige Schritte noch – weiter jedoch war ihre Imagination nie gekommen. Nein, diesen Glücksmoment wollte sie nicht vorwegnehmen!
Als es an der Tür klopfte, der Schiffsjunge ihr kundtat, dass die
Stern von Havena aus Brabak zurück sei, da erkannte sie, dass die Wirklichkeit sich von Fantasie unterschied. Als sie den ausweichenden Blick des Jungen wahrnahm, die Worte
Krankheit, Leid und Heiler nicht nur hörte, sondern auch verstand, wandelte sich Freude in einem Herzschlag in Furcht. Mit jedem weiteren Schlag schwärte Eiter in ihrem Herzen und wuchs an, bis er ihr Wesen gänzlich erfasst hatte. Keine andere Sorge, keine Pläne, keine Pflichten oder Gedanken - weder gut noch schlecht - waren von Bedeutung.
Efferdsieche, ein schwerer Fall, erklärte der Medicus, während drei Matrosen den sinnestrüben und fiebernden Leib ihres Gemahls in die Stube trugen. Bettruhe, fester Boden und Gebete sei alles was man tun könne. Das ein oder andere Kraut könne die Symptome etwas mildern, aber über Krankheit und Gesundung, über Leben und Tod, entschieden nun nicht mehr die Menschen. Also betete sie. Alle Zwölfe flehte sie an, bettelte, versprach, drohte, weinte, verhandelte und bekam keine Antwort. Nach sechs Tagen empfing der Heiler sie nicht mehr, nach acht Tagen hörte kein Priester ihr Flehen mehr. Tage und Nächte verbrachte sie daheim, pflegte den Leib so gut es ihr beschieden war, verkaufte alles von Wert für Heilkräuter und Tinkturen. Trotz und allem - besser wurde sein Siechtum nicht. Immer blasser seine Farbe, immer leiser sein Atmen, immer weniger seine Reaktionen. Am zehnten Tage brach sie die Gesetze der Götter und Menschen.
„Geister, Irrlichter und Gespenster sind nicht die einzigen Fährnisse, welche in den dunklen Tiefen auf unvorsichtige Sterbliche warten. Die Necker sind den Menschen keine Gefahr, wenn sie nicht im Rausch euren Leib in die Tiefe ziehen und euch zu einem der ihren machen. Schlangentau und Batzenmuscheln mögen euren Leib verwunden und gar euer Leben beenden. Eure Seelen jedoch, eure Seelen sind in gänzlich anderer Gefahr. Wenige Berichte sind es nur, einzelne Fischer allein haben den Schrecken geblickt und vermögen davon zu schildern. Der wandelnde Wirbel!“ Keine Reaktion bei den beiden Männern. „Ohne Warnung, ohne Ursache oder Grund, der ihn erklären oder rechtfertigen könnte, beginnt und endet der wandelnde Wirbel. Weder Ort noch Zeit lassen sich von Sterblichen bestimmen, aber Sterbliche sind es, die in ihm verschwinden. Sterbliche sind es, die er hascht und für alle Zeit verschlingt. Ob der nasse Griff jedoch die Seele freigibt, sie fliegen lässt übers Nirgendmeer zu Rethon, der Seelenwaage, dies können wir nicht wissen. Scheint der Wirbel doch direkt aus den Niederhöllen zu wurzeln und eine Pforte und ein Tor dorthin zu sein.“ Der Jüngere lugte zu Isora, die weiterhin in Ausschau nach der Krähe war, und dann weiter zu seinem Begleiter, der nun ebenfalls seinen Blick ins Boot gerichtet hatte. Beide lächelten sich zu und bemühten sich, einander ihre Beherztheit und Unbekümmertheit zu versichern.
Vorsicht jetzt! Isora ging ein Wagnis ein, die düsteren Geschichten auszuführen. Ohne etwas Beklemmung jedoch, könnte Fadheit übernehmen und die Fahrt vorzeitig dem Ende zuführen. Gleiches drohte auch, sollte Angst die beiden übermannen. Es galt die Balance zwischen Furcht und Langeweile zu halten. Der Turm der Zauberin, die alten Tempel, verrufene Wracks, der Ferdokbogen – die Unterstadt hatte einige bekannte und berüchtigte Orte und versunkene Mysterien. Von einigen erzählte Isora kurz, soweit sie etwas wusste oder glaubhaft erfinden konnte. Die Geister, Monster und Gefahren jedoch, waren die wahren Objekte der Neugierde. Für Furcht waren die Männer gekommen. Für jenes einzigartige Gefühl der Bedrohung, des Herzklopfens, der unbestimmten Angst, der Zuversicht, dass ja kein
wirkliches Unheil drohte und schließlich Freude über den eigenen Mut. Ein schneidender Schrei des Vogels deutete die weitere Richtung.
Kein Gebet half. Kein Kraut und kein Mittel schenkten Linderung. Ihr Liebster entschwand mit jeder Stunde, mit jedem Tag, weiter aus der Mitwelt. Bald würden sie getrennt sein, würde sie sein Gesicht nicht mehr blicken können, seine Wärme nicht mehr spüren dürfen und in Einsamkeit zurückbleiben. Bald würde der peinvolle Griff um ihr Herz auf ewig sein, denn nur seine Liebe konnte ihn zerschlagen, allein sein Lächeln, seine Berührung, sein
Leben vermochte dies zu tun. Aber noch gab es eine Hoffnung, die unberührt war. Isoras Elend war gewachsen auf ein Maß, dass alles Zögern und jedes Bedenken überwand. Magie. In Magie lag noch Hoffnung.
Die strikten Strafen für Anwender und Nutznießer waren nicht länger ein Hindernis. Allein die Hoffnung hatte noch Bedeutung.
Ein Kräuterweib war tags darauf gefunden. Die Begutachtung dauerte nicht lange. Befremdlich klangen die gemurmelten Worte des Weibes, die Isora vernahm, aber nicht begreifen konnte. Schlimmer aber waren die Worte, welche sie verstand. Ein Fluch.
Die Herrin hatte ihren Mann verwunschen und nun müsse er sterben. Weshalb könne sie nicht sagen, aber ohnehin, wer vermöge schon den Willen der Unsterblichen zu deuten. Vielleicht jedoch, ließe sie sich besänftigen, mit einer Gabe, mit einer Tat. Mit einem
Opfer. Ein kleines Tier müsse sie töten, dann müsse sie der Herrin ihr Bitten vortragen. Noch am Abend des elften Tages drang Rauch aus der Schale, in der das Blut einer Ratte sich mit der letzten Hoffnung der Frau vermischten.
Das Boot war nun wirklich verloren. Isora war geflissentlich der Nebelkrähe gefolgt, leise übers Wasser gleitend. Der Nebel öffnete sich vor ihnen, schloss seine Hand dann geradewegs wieder. Alle Wahrnehmung reduziert auf eine Kuppel von wenigen Schritt.
Wohin führst du mich, Federvieh? „Sorgt Euch nicht, meine Herren! In diesem Lichte vermögen Euch die Augen leicht zu täuschen. Wir sind am richtigen Orte, sorglich bin ich dem unseren Pfad gefolgt. Andere Sinne mögen Euch ein besserer Führer in der Unterstadt sein. Ein vermeintlich hilfreiches Licht kann Euch in Euer Verderben führen, ein vorgeblich freundlicher Ruf eine arglistige Falle sein!“ Einzig Feder und Schnabel kannten den Pfad, so es einen gab. Isora hatte alsbald die Orientierung verloren, folgte nur artig Schrei und Schatten. Ohne Wissen über Weg und Ziel. Zeit und Raum verloren Geltung, wichen Wänden, die die Wirklichkeit abschotteten.
Isora müsse nach dem Opfer ihre Bitte stellen, hatte das Kräuterweib erklärt. Voller Achtung, ohne Umschweif um eine Gunst bitten und die fällige Gegenleistung erfragen. Wie sie die Herrin heißen solle, hatte sie gefragt. Zahlreiche Namen gäbe es, Kryptor in Al'Anfa, die Sumpforks in Norden rufen sie Ranagh, die Hummerwesen im Osten kennen Globomong. Isora aber solle den Namen der Waldmenschen wählen:
Nachtschwarze Herrin. Wie geheißen tat sie, legte all ihre Verzweiflung und Hoffnung in die Bitte, bereit jeden Dienst zu erfüllen. Nicht einem Gebet unähnlich, verließ der Wunsch ihren Mund, erfüllte das Zimmer und trug das Gesuch in die Welt und darüber hinaus. Anders als ihre Gebete, blieb diese Fürbitte indes nicht unbeantwortet. Fordernd, gleichgültig, zornig, sanft, erhaben und spottend. Solcherart Stimme hatte sie zuvor nie vernommen, fremd und falsch, so dass es ihr nicht möglich war den Klang zu bestimmen. Von einer vordem ungehörten Zunge, konnten die Wörter keinen Sinn in ihr stiften. Unnütz waren sie dennoch nicht gewesen, das kundige Weib wusste die Begriffe zu deuten und unterrichtete Isora über den Wunsch der Herrin. Eine Fahrt in stille Gewässer, zwei Seelen solle sie geleiten, folgend dem Flug von schwarzen Schwingen. Erbringe diese Schuldigkeit und der Griff soll von deinem Gemahl fallen. Weigere dich, so wird sein Leib zerfallen und eure Seelen euch nimmermehr finden, nicht hier und nicht woanders.
Jeder Stoß der Stake schob das Boot weiter seiner Bestimmung entgegen. Langsam, aber stetig ging die Fahrt von dannen, ohne Änderung in Tempo oder Kraft. Nun aber wurde ihr gewahr, dass der Schwung der Bewegung sich erhöhte – die Fahrt nahm zu und auch der Kurs wurde nun von des Wassers Hand geführt. Die Männer schienen dies nicht zu bemerken, oder machten keine Anmerkung dazu – beide schienen allemal tief in Gedanken und Eindrücken verloren zu sein. Der Aufprall war nicht zu erahnen. Isora wurde nach vorne geworfen und fiel – gleich den beiden Männern – ins Wasser. Einer Hand gelang noch Halt, fest war ihr Griff um das feuchte Holz des Kahns, jedoch war ihr ganzer Körper und auch der Kopf vollständig unterhalb im Wasser. Nach den ersten Herzschlägen, von Schreck, Kälte und Schmerz beherrscht, öffnete sie die Augen und wendete den Blick nach unten. Ihre Instinkte drängten sie an die Luft, heraus aus dem Nass, doch spürte sie eine Kraft, eine Macht gar, die von herab nach ihr zerrte. Weit unter ihr, in der schwärzesten Tiefe sah sie Farben. Grün, Blau und Violett, blass zwar, wie hinter einem Schleier aus Grau und Schwarz, aber so deutlich, dass es keine Täuschung sein konnte. Die Farben schwirrten im irren Tanz umeinander, strömten im Kreise. Isora sah mit Unglauben in den Strudel, dessen Entstehung sie schaute. Das grausige Dunkel ließ keine Einschätzung des Wirbels zu, nicht die Tiefe in der er begann, konnte sie im Geiste vermessen, noch vermochte sie dessen Maße einzuordnen. Grauen und Faszination zugleich hielten ihre Aufmerksamkeit gefangen. Ersteres überragte und nun wurde sie auch den beiden Männern gewahr. Einer war bereits so weit gesunken, dass sie nur einen Schemen erblickte, der sich vor dem gräulichen Spektakel unter ihr befand. Sein Gesicht blieb ihr verborgen, seine nach oben gestreckten Arme waren kaum noch zu erkennen. Er schien sich wie im Veitstanz um sich selbst zu drehen, beständig tiefer sinkend und war bald von Dunkelheit verborgen.
Wie eine Feder im Orkan.
Es musste der Jüngere gewesen sein, denn der Ältere hatte eine Hand an Isoras Fuß und vermochte so dem Sog noch widerstehen. Entsetzen bestimmte seinen Todeskampf, sein Antlitz in panischer Grimasse verzogen, denn es gelang ihm nicht, seinen Körper aus eigener Kraft aus dem Zug der entsetzlichen Kräfte unter sich zu reißen. Ihre Blicke trafen sich und für einen Moment erkannte Isora Zuversicht in seinen Augen. Neues Entsetzen, nun gepaart mit Empörung, Erstaunen und Verrat blickte sie an, denn ihr Fuß zuckte und zappelte und stoß die Hand des Mannes ab. Auch er begann nun den wilden Tanz, die Arme zu den Göttern gestreckt. Mit jeder Drehung vervielfachte sich das Tempo und auch sein Bild verlor sich im fürchterlichen Schauspiel. Ihr wurde nun schmerzhaft und plötzlich gewahr, dass ihr Atem verbraucht und ihr Arme in Pein waren. Ein Instinkt, ein verborgener Wille, versuchte ihren Körper aus dem Wasser zu ziehen. Mittlerweile waren beide Hände an der Seite des Bootes und zogen mit panischer Kraft nach oben. Ihr Kopf war kaum mehr als die Tiefe einer Pfütze von der rettenden Luft entfernt und doch gelang es ihr nicht, auch nur dieses Körperteil durch die Oberfläche zu hieven. Ein furchtbarer Schrecken erfasste ihr Herz. Auch ein weiterer Versuch, durch Willen und Stärke aus dem Wasser zu stoßen, blieb ohne Erfolg. Die Kraft des Wirbels hatte auch sie gefangen und ohne Unterlass und Ermattung verlangte er nach ihr. Sie, die Lungen voller Pein, der Geist gefüllt von einem Rausch aus Gedanken, die Muskeln schmerzhaft entkräftet, hing mit ihren Fingern an ihrem Leben. Aller Glaube verließ sie, ersetzt durch Hilflosigkeit und fassungsloses Begreifen. Isora war allein und der unablässige Griff des Strudels würde obsiegen.
In die tobende Brandung ihrer Gedanken fiel ein klarer Gedanke.
Ist das der Preis? Verlangt die Herrin nach mir? War ihr Leben der nötige Preis, dasjenige ihres Mannes zu retten? War der Dienst erbracht, sollte der Schlund des Trichters ihrer Habhaft werden? Der enorme Druck in ihren Lungen, das stechende Verlangen nach Atem forderte eine Entscheidung. Sie schloss ihre Augen und suchte in ihrer Erinnerung nach einem Bild,
seinem Bild. Einen Herzschlag spürte sie sein Gesicht, seine Berührung, war sein Wesen bei ihr. Sie öffnete die Hände und gab sich den höheren Mächten hin. Nichts geschah und in Seelennot blickte sie nach oben. Wie im Krampfe pressten ihre Finger weiterhin ins Holz, wollten sich dem Schicksal nicht fügen. Eine neue Furcht umklammerte sie, als ihre Muskeln erneut versuchten - wider allen Schmerz und ohne ihr Gebot – den Leib ins Boot zu tragen.
Muss er sterben weil ich es nicht kann? Bestürzt strebte sie danach, das Donnern der Gedanken zu ordnen, ihren Körper wieder zu beherrschen. Durch eine Urkraft aus Verzweiflung und Schrecken öffnete Isora ihren Mund und gab dem immensen Drang nach ihre Lungen zu füllen. Fluten spülten in ihren Körper, füllten ihr Inneres, dass sie fürchtete zu bersten. Der Schmerz übertraf allen Kummer, alles Leid. Ein Reiz drängte das Wasser mit einem Erbrechen aus ihrem Körper, nur um daraufhin erneut Wasser einzusaugen und das Elend noch weiter zu vergrößern. Leid und Pein waren unermesslich. Ihr Körper bebte und all ihr Sein sehnte sich nach Erlösung, die nicht kommen wollte. Außer Stande, ihren Leib zur Rettung zu ziehen oder in die Tiefe gleiten zu lassen, unfähig den quälenden Wechsel des Wassers in ihrem Körper – rein und raus, rein und raus – zu beenden, verloren in Agonie und Tortur, war sie nicht einmal mehr in der Lage eine höhere Macht um Gnade zu bitten. Ihr Geist wurde von tausend glühenden Zangen gefoltert, ihre Seele von Marter zerschlagen und ihr Leib gepeinigt von Schmerz, der aller Vorstellung spottete.
Unvermittelt war es vorbei. Ein kräftiger Ruck zog sie nach oben, sie brach aus ihrer Folterkammer und rollte sich ins Boot. Sie spie Wasser auf das Holz, keuchte und hechelte nach Luft, tobte, schrie, jammerte und blieb schlussendlich auf dem Rücken liegen. Kein anderer weilte im Boot, bis auf ein leichtes Schaukeln der Barke spürte sie keine Bewegung. Um sie herum Stille, sich legender Schmerz und Entsetzen in einer Größe, die ihr Verstand nicht fassen konnte. Alles war dumpf, ihre Sinne waren taub und überlastet. Instinkt und Intuition trieben sie weiter. Es wurde ihr bewusst, dass ihr eigener Wille sie gerettet hatte. War die Kraft des Wirbels schlagartig geendet? War es ein letzter Akt der Verzweiflung, der die Tat ermöglichte? Nichts war geblieben von den beiden Männern und dem Schicksal, dass ihnen auferlegt wurde. Das Flattern und der Schrei machten ihr den rätselhaften Führer gewahr. Gewohnheit und Reflex lenkten den Körper.
Ist der Dienst erfüllt? Habe ich gefrevelt? Habe ich die Niederhöllen geblickt? Bin ich tot? Wird er leben? Weiter folgte sie der Nebelkrähe, erdrückt von Angst, Scham und Verwirrung.
Aus ihrer Mitte wuchsen zwei Gemüter, die sich die Waage hielten. Hoffnung und Furcht. Sobald sie wieder zurück bei ihrem Manne war, würde sie die endgültige Wahrheit erfahren. Leben oder Tod. Sie verbarg sich vor der Hoffnung, als könne diese einen Makel bedeuten oder das Ergebnis ungünstig beeinflussen. Auch die Furcht durfte nicht erstarken, spürte sie doch dahinter einen Abgrund, noch tiefer und schwärzer als der Wirbel, dem sie entronnen war. In diesem Stupor, gefangen auf der schmalen Brücke ihrer Gedanken, folgte sie dem Flug des Führers. Ihres Daseins wurde sie erst wieder gewahr, als das Boot mit einem leichten Ruck an den Gestaden ihrer Heimat anlegte. Langsam öffnete sich der Schleier um ihren Geist und die Wirklichkeit des Lebens entfaltete sich. Isora verließ die Entrückung und steuerte ihr Heim an. Eigene Schritte leiteten sie nun, vom einstigen Führer nichts mehr zu sehen.
Sie schwor tausend Schwüre, würde fürderhin kein schlechtes Wort mehr sprechen, keine falsche Tat begehen. Wenn er nur leben dürfe! Der Kräuterweibe, würde sie die Hände küssen und für ihr Wohl an jedem Tage, bis zum ihrem letzten Tage, ein Gebet sprechen. Wenn er nur leben dürfe! Fortgehen würden sie zusammen, weit weg von schrecklicher Erinnerung und böser Tat. Neues Glück in neuem Leben suchen. Wenn er nur leben dürfe! Unversehens stand sie vor der Türe. Hinter dieser Pforte lag nicht nur ihr Mann, wartete nicht nur die weise Frau, ihren Gemahl behütend, dort wartete all ihr Glück und all ihr Leid. Sie klopfte um Einlass.
Das Weib war nicht untätig gewesen. Gerade betrachtete sie ihr Werk, schien unzufrieden und nestelte noch etwas herum, als sie ein Flattern vernahm und den gefiederten Freund auf dem Fenster erblickte. Jener krächzte drei Mal, zwei kurze und einen langen Laut stieß er in den Raum.
Sie lebt! Die Frau war nun nicht mehr lange entfernt. Die Kräuterkundige entschied ihr Schaffen für ausreichend und warf einen Blick zu dem Mann. Ruhig lag er auf seinem Krankenbett, nein, vielmehr Totenbett. Seines Lebens Ende hatte sich ereignet, da hatten die Frau und ihre Begleiter just ihre Reise begonnen. Nun lag er still auf dem Rücken, die Augen geschlossen, wie vor seinem Ende. Sie hatte ihn erneut gedreht, nachdem er den Tode auf dem Bauch erlitten hatte. Es war einfach gewesen ihn dieser Position zu ersäufen. Den Eimer mit Unwasser hatte sie lediglich unter den Kopf stellen müssen und sein Haupt solange drücken, bis die schwachen Zuckungen geendet hatten.
Besagten Kübel schüttete sie nun über den Fünfstern aus halbvergorenen Algen, der als Zentrum des Rituals diente. Die Details waren von hoher Bedeutung, daher hatte dieses banale Symbol viel Zeit beansprucht. Die Paraphernalien waren verteilt und die Hexe stimmte urtümliche Gesänge und beschwörende Worte an. Diesmal würde sie die Herrin tatsächlich anrufen und kein falsches Schauspiel darbieten. Anstatt der eigenen, von Zauberkraft geschaffenen Worte, würde sie die Antwort der Herrin vernehmen. „Allesverschlingende Gebieterin, erhöre meine Ruf! Empfange mein Bitten und gewähre mir Gehör!“ Sie kniete nun vor dem Pentagramm und nahm den Opferdolch, eine spannlange Waffe beinernem Griff. „Ich bin eine treue Dienerin und habe deine Ehre gepriesen. Dem wandelnden Wirbel habe ich geopfert! Mutter von Kraken und Schlange, deinen Ruhm will ich mehren und deinem Willen gehorsam folgen!“ Während sie die Worte mit Verzückung sprach, tauchte das Weib den Dolch in die kleine Schale und vollführte das Reinigungszeremoniell. Der Opferdolch, das Instrument des Vollzugs, im Blute eines Delphins zu waschen war der Herrin sehr gefällig. „Herzogin der Nachtblauen Tiefen, für deinen Ruhm bringe ich dir dies Opfer dar. Erhöre mich und aus seinen Innern will ich dir eine Devotionale kreieren und dein Zeugnis darlegen!“ Das Aroma eines faulig-abstandenen Gewässers umschmeichelte ihr Gesicht. Eine nicht sichtbare, aber für ihre bewanderten Sinne deutlich spürbare Präsenz näherte sich dem Diesseits. „Herrin von Gal'k'zuul, dir allein will ich dienen, nur deine Erhabenheit preisen!“
Es war nun nahezu soweit. Die Tat musste bald vollbracht werden. Unsterbliche waren oft überraschend ungeduldig. Sie legte den Dolch zurück auf das Tuch. Sobald die Frau den Raum betrat, war es soweit. Sie würde direkt zu ihrem Gemahl gehen, unwissend und ahnungslos würde sie sich über ihn beugen, versuchen seine Zuwendung zu wecken. Irgend eine Reaktion zu wecken. Die Klinge war scharf, der Schnitt in die Kehle würde tief sein. Kein Schrei könne so ihren Hals verlassen und an ihrem eigenen Blute würde sie ertrinken. So wie es der Herrin Wohlgefallen bereitet. „Herrin aller Wasser, für deine Gunst will ich dir ein weiteres Opfer darbieten. Ein sündiges Weib, voller Hoffnung und zugleich in völliger Verzweiflung. Es soll dir würdig sein und den Pakt besiegeln.“ Ein Klopfen zog das Kräuterweib aus der Trance. Sie blickte sich um, versicherte sich erneut, dass alles bereitet war und verbarg den Dolch im Tuch. Sie sammelte sich einen Moment, erhob sich langsam und legte ein falsches Lächeln auf ihre Lippen. „Tritt ein, mein Kind!“
Mit Inspiration von
Edgar Allen Poe und dem wunderschönen Bild einer
Nebelkrähe von Fenia Winterkalt.