Ich kann die Teile nicht getrennt bewerten, sondern nur als Gesamtwerk. Ich habe keinen Gesamtbewertungsthread gefunden (falls ich ihn übersehen habe bitte verschieben), daher schreibe ich mal hier ohne abzustimmen.
Das Zerbrochene Rad ist ja bekanntermaßen eine Anleihe an
Krieg und Frieden, und dieses literarische Vorbild schimmert auch relativ deutlich durch. Natürlich können sich Kiesows läppische eintausend Seiten
nicht ernsthaft an Tolstois Monumentalwerk messen. Wenn wir als Messlatte nicht ein Meisterwerk der Weltliteratur nehmen, bleibt aber zu sagen, dass es sich doch um einen sehr guten Fantasyroman handelt.
Das Buch führt uns in den Norden Aventuriens, ins Bornland. Auf anschauliche Weise werden uns Leben und Kultur im Land des Schwarzen Bären vorgestellt. Wir erfahren von den Festlichkeiten des Adels gleichermaßen wie von den alltäglichen Nöten der kleinen Leute und der eisernen Hand der Bronnjaren, die je nach individuellem Naturell teils wohlwollend, teils tyrannisch, aber stets streng herrschen. Über all dem liegt der Schatten von Borbarads Rückkehr. Zunächst sind es nur düstere Vorahnungen und Gerüchte über ferne Schlachten, doch nach und nach schält sich heraus, dass der Strom der Ereignisse gar nicht so weit weg ist vom beschaulichen, rückständigen (Verzeihung,
traditionsbewussten!) Bornland. Ein paar Akteure sammeln Truppen, spinnen Intrigen, spinnen Bündnisse und versuchen so erste Weichen zu stellen, ehe die Konflikte in offenem Krieg kulminieren.
Kiesow versteht es, das Thema des epischen Kampfes Gut gegen Böse zu verflechten mit stimmungsvollen Beschreibungen, mit Erzählungen von Liebe und Freundschaft, Verlust und persönlichen Lebenskrisen, hier und dort garniert durch prickelnde Erotik, mancherorts auch garniert durch
verstörende Erotik. Auch wenn ich schon vorher wusste, wie es am Ende ausgeht, hatte das Buch doch sehr viel Spannung für mich zu bieten.
Ein paar besondere Leckerbissen und erwähnenswerte Dinge:
- * Eine der besten Beschreibungen einer Partie Rote und Weiße Kamele - einfach genial!
* In einer der ersten Szenen dreht sich alles um die vielbeschworene "Elfische Weltsicht", und wie diese sich von der menschlichen unterscheidet. Ehrlich gesagt fand ich den Elfen zu "vulkanierhaft", mein Elfenbild ist anders und ich war froh, dass danach keine Elfen mehr auftauchten. Trotzdem war die greifbare, konkrete Schilderung einer etwas anderen Herangehensweise sehr interessant.
* Die Geschichte mit Arvid, Algunde und Matajew hatte nichts mit Krieg und Dämonen, großen Schätzen oder alten Geheimnissen zu tun, aber es war einfach eine zutiefst menschliche Geschichte, bei der man so richtig mitfühlen kann.
* Der wohl skurrilste Handlungsfaden drehte sich um einen Dachs. Immer wieder fragt man sich: "Was soll das? Was hat das mit der Geschichte zu tun?" und wird zum Spekulieren angeregt. Trotzdem habe ich Kiesow ein, zwei Mal verflucht, wenn wir mal wieder unspektakuläre Neuigkeiten aus dem Leben eines Wildtieres erfuhren auf die ich gar keine Lust hatte, ich aber andererseits auch nicht weiterblättern wollte weil ich ja wissen wollte, was es nun mit dem Dachs auf sich hat. In der finalen Entscheidungsschlacht aber bekam ich dann auch einmal große Augen - inmitten von Sieg und Sterben, Helden und Dämonen kam mir auf einmal eine Vorahnung: Jetzt kommt die Sache mit dem Dachs, jetzt wird Meisterinformationen: Uriel von Notmark mit seinem Pferd in den Dachsbau einbrechen.. Naja, ganz so "jetzt" war es nicht, ein bisschen musste ich mich gedulden, aber als es dann schließlich genau so kam, musste ich laut lachen und konnte mir eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen. Was war es jetzt mit dem Dachs: Ein genialer Gag, von langer Hand vorbereitet, oder doch eher ein absonderlicher Einfall der besser nicht zu Papier hätte gebracht werden sollen? Ich kann mich nicht entscheiden, das muss wohl jeder Leser selbst beurteilen.
* Darüber hinaus gab es noch viele kleine Details, die das Buch toll mach(t)en.
Kritik muss ich leider aber auch üben:
- * Auch wenn der Schreibstil im Großen und Ganzen angenehm war, gab es doch auch ein paar Stellen, die man wohl unter "literarischer Griff ins Klo" verbuchen muss. Beispielsweise will ich kurz vor Beginn der finalen Schlacht keine viertelseitige Abhandlung über verschiedene aventurische Zeitrechnungen lesen. Hier könnte aber auch reingespielt haben, dass Kiesow durch seinen tragischen Tod keine Gelegenheit mehr hatte, das Buch noch einmal zu überarbeiten.
* Am Ende des Buches betritt gleich ein ganzer Schwung wichtiger neuer Charaktere die Bühne. Auch wenn der alte DSA-Hase mit Namen wie etwa Herzog Waldemar dem Bären durchaus etwas verbindet, war es doch nicht grad elegant die einfach so in die Geschichte reinzuschubsen. Für mich bleibt der Geschmack des Namesdropping.
* Geradezu archetypisch war die Rolle von Kiesows gleichermaßen faszinierender wie umstrittener Lieblingsfigur. Nahema, das Miststück das immer undurchschaubar ist, niemanden an sich ranlässt und eigentlich jedem übel mitspielt, mit dem sie zu tun hat, hat im Finale eine Überraschung parat: Meisterinformationen: Die coole Mirhiban, die obercoole Thesia und Na-Chuck Norris-hema sind alte Busenfreundinnen. We proudly present the Heilige Dreifaltigkeit der Mary Sue.
* Einfaches Dorfleben ist ja durchaus stimmungsvoll, und ein Herz für die "kleinen Dinge" ist sympathisch, aber meist nicht so ganz spannend. Gegen Ende hätte es ruhig ein kleines bisschen weniger sein können.
Soweit die Punkte, die mir jetzt einfallen. Im Gesamtfazit gibt es gute und schlechte Sachen, aber die guten überwiegen. Ich gebe dem Zweiteiler 4,5 Punkte, mit Tendenz eher Richtung 5. Einem jeden DSA-Spieler kann ich es nur wärmstens ans Herz legen, und auch sonstige Fantasyliebhaber die immer schon mal aventurische Luft schnuppern wollten könnten es zum Einstieg in die DSA-Welt schlechter treffen. Alles in allem eine würdige Krönung von Kiesows Lebenswerk!
Nachtrag:
Nachdem ich die anderen Bewertungen durchgelesen habe, noch ein paar Punkte:
- * Die Rolle des Erzählers war in der Tat etwas schwammig. Teilweise ein auktorialer Erzähler, dann aber wieder mit dem Anspruch, selbst ein Aventurier zu sein (aber wer???) - was ich beim Lesen als etwas irritierend empfand. Aber auch hier möchte ich wieder anmerken: Kiesow starb kurz nach Ende des Buches. Ich weiß nicht, ob er das Buch noch mal überarbeitet hätte, oder nicht, aber es könnte eine mögliche Erklärung für "Unsauberheiten" sein. Der moralische Zeigefinger hingegen war fehl am Platze.
* Sollte die Tjeika-Sache wirklich stimmen, wäre das ohne Frage ein ziemlich unsauberer Zug - was man dem Menschen Kiesow durchaus zum Vorwurf machen könnte, was mich aber in der Geschichte selbst nicht gestört hat (von der Verurteilung durch den Erzähler am Ende abgesehen).
* Die Zeichnung der Charaktere als schablonenhaft und ohne Entwicklung, das Verzetteln in Nebenhandlungsstränge - diese Kritikpunkte die hier einige gemacht haben teile ich nicht. Ich fand gerade das eigentlich sehr schön. Da sind Geschmäcker wohl verschieden.
Jede kann maskierte Superheld*in sein. Ihr müsst gar nicht 24/7 bereit stehen oder euer Leben in die Waagschale werfen. Die Maske reicht schon!