Wolfio hat geschrieben: ↑25.05.2022 12:19
Du wirst aber um Namen wie Macron, Eifel, deGaule, etc nicht drum herumkommen. Lebendige Welt meint eben auch, dass die Welt auch abseits des ABs besteht. Und dann gehören Klagen über die schweren Kriege an der Ostfront eben für einen Mittelreicher genau so dazu, wie die Kränkung des horasischen Adligen, dass er beim Opernball in Vinsalt kein Ticket mehr bekommen hat, etc,
Bleiben wir mal bitte bei dem Beispiel: Wenn ich Kunsthändler bin, und nach Montmartre reise, und dort gibt es vielleicht ein Festival oder ich habe Probleme mit Kunstfälschern, oder sonstwas, dann brauche ich höchstwahrscheinlich die Namen "de Gaulle" und "Eiffel" überhaupt nicht. Ich brauche auch nicht den Eiffelturm, den sehe ich nämlich überhaupt nicht, der ist auch irrelevant. Was ich stattdessen brauche sind Begriffe wie Sacré-Coeur, Moulin Rouge, vermutlich werden da Namen fallen wie Degas, Cézanne, Renoir, Pigalle.
Hocken da Leute rum, die sich über Macron ereifern? Möglich. Vielleicht aber auch gar nicht, weil eigentlich ist der Präsident thematisch ziemlich weit weg, und vielleicht ist es viel wichtiger, dass sie sich über den Bürgermeister des 18. arrondissements aufregen. Oder über die Gewerkschaft. Und ganz ehrlich, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird niemand über De Gaulle sprechen.
Das ist dann alles "lebendige Geschichte", das sind Details, Personen, Orte. Ich kann auch auf die Pariser Kommune des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Selbstverständlich "kennt jeder" Franzose vor Ort Napoleon und de Gaulle. Aber werden diese Personen im Gespräch auftauchen? Sind sie für das Abenteuer relevant? Selbstverständlich kennt jeder Franzose Greta Thunberg und Tom Cruise und hat vermutlich eine Meinung zu "Fridays for Future" - aber würde das jetzt für ein Abenteuer einen Kasten rechtfertigen "Was denken die Einwohner von Montmartre über FF?" Oder den Ukraine-Krieg? Wo hört man da auf? Fühlt sich ein Besuch in Paris für dich nur dann real an, wenn du vor Ort mit Menschen über Macron und De Gaulle gesprochen hast? Ich würde sagen: Nein. Jeder Franzose kennt den Zweiten Weltkrieg und die Besatzung der Deutschen, und das war ein riesiges Thema, aber möglicherwiese sind eben für einen Besuch in Montmartre Namen wie Degas, Charles Aznavour, Claude Lelouch oder die früheren Weingärten auf dem Hügel wichtiger, als der Zweite Weltkrieg.
Realität ist vielschichtig und wird immer vielschichtig sein, und ich kann nach Brabak reisen, ohne dass König Mizirion und Prinz Peleiston eine Rolle spielen. Oder Emmeran Tralloper. Oder Pôlberra. Der spannende Unterschied ist natürlich: Insgesamt ist Brabak viel, viel weniger ausgearbeitet, als die realgeschichtliche Realität von Paris. Für Brabak wissen wir relativ wenig darüber, wer da vor 150 Jahren gelebt hat, wir kennen auch die örtliche Gruppe von Künstlern nicht (weil sie bislang niemals erwähnt wurde). Und jetzt kommt der Zirkelschluss: Wenn natürlich in jedem Abenteuer immer wieder für Brabak Peleiston, Tralloper, Pôlberra und der Wirt des Güldenen Mysob erwähnt werden, dann werden auch diese Personen immer diejenigen sein, die mit der Stadt verbunden werden. Meistens hat eine reale Stadt aber viel, viel mehr relevante Personen. Und es könnte viel wertvoller sein, ausführlich eine Gruppe von Künstlern in Brabak einzuführen, und denen Platz zu widmen, als jetzt noch zu erklären, wer übrigens Emmeran Tralloper ist oder einen Kasten dafür zu opfern, wie Brabak die Ereignisse des Rabenkriegs beurteilt. Weil, seien wir ehrlich, sehr häufig ist die große Politik für die Menschen vor Ort nämlich eigentlich ziemlich egal.
Ich finde es großartig, wenn ein Abenteuer in Brabak es schafft, Prinz Peleiston irgendwie relevant zu verknüpfen und Pôlberra und die Wirtin des Güldenen Mysob. Aber es muss Sinn ergeben. Es muss halt reinpassen. Und wenn es nicht reinpasst, dann lässt man es weg. Dafür gibt es dann nämlich Regionalspielhilfen, Almanach oder eben andere Abenteuer, und jeder Spielleiter, der daran Spaß hat, fügt das dann mit Freuden ein und freut sich tierisch, über die tiefe, detaillierte, lebendige Welt, bei der er aus dem Vollen schöpfen kann, und durch Recherche in anderen Materialien noch coole Extras hat. Und dann schaut er noch in "Orden und Bündnisse" nach und bekommt noch die Namen der BVOC dazu. So entsteht lebendige Welt.
Aber sorry, der Anspruch kann nicht sein, dass ein Abenteuer das alles abdeckt, und sobald ein Autor sich entscheidet, einen Aspekt nicht zu berücksichtigen, ihm vorgeworfen wird, dass er keine Ahnung hat oder die lebendige Geschichte zerstören will oder mutwillig ignoriert.
Und nein, der Vergleich von Paris mit "irgend einer 3000 Einwohner-Stadt" hinkt nicht. Ich kann dasselbe auch mit einer deutschen Kleinstadt durchdeklinieren, da ist möglicherweise Olaf Scholz auch unwichtig, und der Oberbürgermeister auch, dafür ist der örtliche Winzerverein zentral. Paris hat halt den Vorteil, dass es hier jeder im Forum ebenfalls jeder kennt. Mal abgesehen davon, dass wir alle hoffentlich imstande sind, zu abstrahieren, und die Frage, die im Raum steht, lautet ja, wenn ich sie richtig verstanden habe: Müssen, wenn ein Abenteuer in einer Stadt spielt, die jüngsten relevanten Ereignisse und bekanntesten Personen möglichst umfangreich erwähnt sein, oder verstößt es gegen den Geist und den Gedanken von "lebendiger Geschichte", wenn einige davon nicht erwähnt werden? Und das kann man ja skalieren. Natürlich fallen bei einer Großstadt automatisch mehr Leute weg, als bei einer Kleinstadt, allein aufgrund des Platzes. Aber die dahinterstehende Idee ist ja dieselbe.