Mögest du in interessanten Zeiten leben
2002 habe ich mich von meiner Exfrau getrennt, 2003 von meinem damaligen Arbeitgeber. Die Zeit danach war aus dem einen oder anderen Grund
interessant.
2009 folgte die Bankenkrise und zeigte eine Welt, die wir vorher nicht kannten. Letztlich bin ich der Meinung, dass ich persönlich mit Banken gar nicht so viel zu tun hatte, um es wirklich zu merken. Und auch in meinem Job konnte ich nicht greifen, dass dies eine Auswirkung auf mich hatte, selbst wenn es so gewesen sein könnte. Doch fand ich Zeiten, wo Menschen mit Vermögen über negative Zinsen dafür bezahlt wurden, Schulden aufzunehmen, durchaus interessant.
Ca. 2012, kurz bevor die Primadonna und ihr Bruder volljährig zu werden drohten, fing die Echse einen letzten Krieg an. Das war zwar vorhersagbar und auch aus Sicht eines Dritten nachvollziehbar. Für denjenigen, der dichter dran am Geschehen war, beschreibt interessant die Erfahrung aber nur unzureichend. In dem Jahr trennte ich mich von meiner beruflichen Partnerin und übernahm eine bestehende Kanzlei. Was zwar teuer, aber doch eine der wirtschaftlich besten Entscheidungen meines Lebens war.
2014 starb überraschend der Seniorpartner. Die Zeit danach mit dem Dionysos huldigenden zweiten Partner und der interessante Marotten entwickelnden Witwe, die meine Vermieterin war, sowie Erfahrungen in Bezug auf Mitarbeiter war intensiv. Und endete letztlich damit, dass ich mir neue Räume suchte.
Wirtschaftlich kann ich die Zeit bis 2017 und die Zeit ab 2018
deutlich unterscheiden. Die Verluste aus den Drachenkriegen waren abgetragen, die großen Kinder standen auf eigenen Beinen. Die Miete ging durch den Umzug runter. Und indem ich mich im Wesentlichen darauf beschränkte, zwei Menschen glücklich zu machen, rentierte sich die Arbeit immer mehr. Wobei der Umzug selbst wiederum eine interessante Erfahrung barg. Wollte ich doch mit einem Steuerberater zusammen die neuen Räume anmieten. Der jedoch, nachdem ich den Mietvertrag bereits für 5 Jahre unterschrieben hatte, mir erklärte, dass er es sich anders überlegt hatte. Und so waren 5 Jahre lang die Räume zu groß und zu teuer für mich alleine. Das nicht wirklich interessant, aber durchaus lehrreich. Mindestens in dem Sinne, dass niemand mich enttäuscht. Sondern ich mich selber täusche und enttäusche, wenn ich annehme, jeder sei so (vertrauenswürdig) wie ich.
Dann kam Corona und es waren 3 weitere interessante Jahre. Welche die spanische Grippe plötzlich begreifbarer werden ließen und Dinge zeigten, die ich zuvor mir so nicht hatte vorstellen können. Aber auch durchaus lehrreich in Bezug auf Familiensysteme. So haben offenbar viele Menschen ihren Partner neu kennengelernt und nicht jedem gefiel das, was er sah. Bezogen auf Scheidungen und Kindschaftssachen war dies vom rein phexgefälligen Standpunkt aus betrachtet durchaus okay. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass ich in 20 Jahren meiner Tätigkeit erst 3-5 Gewaltschutzverfahren aktiv betrieben habe, davon aber bis auf eines alle in den letzten 2 Jahren, gibt es auch andere Blickwinkel, unter denen man dies betrachten kann.
Nun ist Corona vorbei und die Welt schickt sich an, meine Annahme, dass ich die Teil der ersten deutschen Generation seit über 1.000 Jahren, die keinen Krieg erlebt, zu widerlegen. Auf jeden Fall ist dieser Krieg irgendwie anders als die anderen zuvor, die ich im TV erleben konnte. Und in den ersten Monaten des Jahres 2022 habe ich Russians von Sting häufiger gehört, als ich bis Ende 2021 mir hätte vorstellen können. Wie dieser Krieg enden und die Welt anschließend aussehen wird, vermag ich mir nicht vorzustellen. Aber ich habe mit Erschrecken festgestellt, dass zwischenzeitlich ich Professors Falkens Aussage, dass ihm die Last des Überlebens erspart bliebe, nicht mehr so unvorstellbar erscheint, wie es Anfang der 80er war. Damals konnte ich die Aussage "Ich bin erst 14 Jahre alt. Ich bin noch zu jung um zu sterben." viel eher nachempfinden.
Und jetzt, nach Corona, ploppen um mich herum immer mehr Teenager auf, die mit psychischen Probleme und suizidalen Gedanken in stationäre Behandlung müssen. Es scheint so zu sein, dass diese Vergleichsgruppe die Isolation von ihrer Peer-Group und den Verbleib im elterlichen Haushalt nebst dem Verlust des schulischen Alltages und der Möglichkeit, die ihnen noch recht unbekannte Welt selbst erkunden zu können, emotional bzw. psychisch noch schlechter verkraftet hat, als dies bei vielen Erwachsenen der Fall war. Welche Auswirkung dies in den nächsten Jahren oder womöglich sogar auf folgende Generationen haben mag, kann und will ich mir nicht vorstellen.
Und dann bin ich im hier und jetzt angekommen. Gerade hatte ich ein Gespräch mit einer Frau, die vier Kinder von drei Männern hat. Das kommt vor. K1 und K2 leben bei ihrem Ex-Mann. Für K3 bekommt sie Geld von der Unterhaltsvorschusskasse (UVK), weil der Vater ja nicht arbeitet. Kommt auch vor, ist aber nicht schön. K4 hat sie mit ihrem zweiten Mann, mit dem sie seit 08/22 verheiratet ist. Nun kommt sie zu mir, weil die UVK die Leistungen für K3 eingestellt hat. Was auch nicht überraschend ist, weil eine neue Heirat die Bezugsberechtigung ausschließt, selbst wenn der neue Mann für das fragliche Kind nicht zuständig ist. Ist halt so, so sind die gesetzlichen Spielregeln. Und neben der Tatsache, dass es kein neues Geld mehr von der UVK gibt, will diese auch noch fast 3000 EUR seit 08/22 zurück, weil die Kindesmutter es versäumt hat, der UVK die Heirat anzuzeigen und stattdessen weiter Zahlungen unberechtigt in Anspruch genommen hat. Gemeldet ist die Mutter bei ihrem Exmann. Zu ihrem Ehemann hat sie sich nie gemeldet, weil die Wohnung dort ja zu klein sei. Sie sei bereits in 10/22 wieder ausgezogen, weil es nicht funktioniert habe. Und zu EM1 gezogen, weil sie nicht gewusst habe, wo sie hin sollte. Auf die Frage der UVK, die ich auch gestellt habe, wie es jetzt mit der Ehe weiter gehen soll, meinte sie, dass müsse sie mit ihrem Mann erst bespreche. Er wolle sich ja nicht scheiden lassen. Dass dann, wenn weder er noch sie sich scheiden lassen wollen, die Ehe wohl rechtlich gesehen nicht gescheitert sei, fand die Mandantin anscheinend nicht so toll. Auch das dann die UVK weiter nicht zuständig wäre, sie die 3.000 EUR zurückzahlen müsste und sich dem Grunde nach strafbar gemacht hätte, war wohl nicht das, was sie sich als Beratung vorgestellt hatte. Die Unterhaltsansprüche gegen V2 geltend zu machen, fand sie ebenso wenig überzeugend, weil der ja nicht arbeitet. Und das sie, wenn sie mit ihrem Exmann und Vater von K1 und K2 zusammenlebt wahrscheinlich kein Bürgergeld/Hartz IV bekommt, weil dann von einer Bedarfsgemeinschaft auszugehen wäre, kommentierte sie mit: "Aber ich brauche doch Geld zum Leben." Mein Vorschlag, dass man auch arbeiten könnte, konterte sie mit einem Nicken auf K4, der schlafend im Kinderwagen neben uns lag. Niemand hat gesagt, dass das einfach wäre. Abschließend glaube ich, dass wenn Dummheit weh tun würde, diese Frau den ganzen Tag schreien würde. Aber zum Glück muss ich nicht jedes Mandat annehmen, dass mir angetragen wird.
Das ich über all dies mir Gedanken mache und sie hier aufschreibe, um sie hier - einem Denkarium ähnlich - zu entsorgen und mich zu entlasten, beantwortet füchte ich auch die Frage, die den Topic dieses Threads darstellt.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat geschrieben:„Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“